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Das Reizdarmsyndrom (RDS), auch bekannt als Irritable Bowel Syndrome (IBS), ist eine weit verbreitete funktionelle Störung des Verdauungstrakts. Die Ausprägung der Symptome kann stark variieren und reicht von leichten Beschwerden bis hin zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen, die die Lebensqualität der Betroffenen erheblich einschränken können. Die Erkrankung zeichnet sich durch ein breites Spektrum an Symptomen aus, die von Person zu Person unterschiedlich sein können.
Bedeutung und Epidemiologie
Weltweit liegt die Häufigkeit des Reizdarmsyndroms bei etwa 11,2 %, wobei die Häufigkeit zwischen verschiedenen Studien und Ländern variiert. In Deutschland liegt die Häufigkeit bei etwa 1,34 %. Frauen sind öfter betroffen als Männer, und die Erkrankung tritt am häufigsten zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf. Es besteht nicht selten eine Kombination mit psychischen Störungen, die den Verlauf der Erkrankung beeinflussen können.
Ursachen und Auslöser
Die Entstehung des Reizdarmsyndroms ist auf verschiedene, biologische und auch psychosoziale Faktoren zurückzuführen. In der aktualisierten S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) wird das Reizdarmsyndrom pathophysiologisch als Störung der Darm-Hirn-Achse beschrieben. Die Ursachen können zentralnervös (Gehirn), peripher (Darm), in der Kommunikation zwischen Darm und Hirn oder in Kombinationen dieser Komponenten liegen.
Biologische Faktoren
Zu den relevanten biologischen Faktoren, die einzeln oder aber auch in Kombination auftreten können, gehören unter anderem:
- Störung der Darmmotilität (Bewegungsfähigkeit des Darms, Peristaltik)
- Gestörter Gallensäure-Metabolismus (Produktion und Wirkung bei Fettverdauung)
- Veränderungen der Schleimhautfunktionen
- Viszerale Hypersensitivität (gesteigerte Empfindlichkeit der inneren Organe, insbesondere des Darms, gegenüber Reizen und Schmerzen)
- Anhaltende Darminfektionen
- Verändertes enterales Immungleichgewicht (Balance des Immunsystems im Darm, die für die Gesamtgesundheit des Körpers von entscheidender Bedeutung ist.)
- Veränderungen in der Mikrostruktur und Signalverarbeitung verschiedener Hirnareale
Darm-Mikrobiom und Reizdarmsyndrom
Eine besondere Rolle bei der Entstehung eines Reizdarmsyndroms spielt das Darmmikrobiom. Hierbei handelt es sich um eine komplexe Lebensgemeinschaft aus Milliarden von Mikroorganismen, hauptsächlich Bakterien, die im menschlichen Darm leben. Das Mikrobiom spielt eine wichtige Rolle für die Gesundheit, indem es die Verdauung unterstützt, Hormone und Vitamine bildet, die Darmbarriere aufbaut und einen wichtigen Teil des Immunsystems darstellt. Einzeln oder auch in Kombination können u.a. folgende Faktoren das Darmmikrobiom aus dem Gleichgewicht bringen und zu gesundheitlichen Problemen führen:
- Unausgewogene Ernährung: zu viel Zucker, verarbeitete Lebensmittel, zu wenig Ballaststoffe
- Medikamente, vor allem Antibiotika
- Chronischer Stress
- Übermäßiger Alkoholkonsum
- Mangelnde Bewegung
Studien haben gezeigt, dass RDS-Patienten qualitative und quantitative Unterschiede in der Zusammensetzung ihrer Darmmikrobiota aufweisen, was als Dysbiose bezeichnet wird und vielfältige Folgen haben kann:
- Verringerte Diversität: RDS-Patienten weisen oft eine geringere Vielfalt an Bakterienarten im Darm auf im Vergleich zu gesunden Personen.
- Verändertes Gleichgewicht: Es kommt zu Verschiebungen in der Zusammensetzung der Darmflora, was die Darm-Hirn-Achse und damit die Darmbeweglichkeit und Schmerzempfindlichkeit beeinflussen kann.
- Gestörte Funktionalität: Die Produktion wichtiger Stoffwechselprodukte wie kurzkettige Fettsäuren kann beeinträchtigt sein, was entzündungsfördernde Effekte haben kann.
- Fehlbesiedlung: Bei manchen RDS-Patienten kommt es zu einer bakteriellen Fehlbesiedlung des Dünndarms, der normalerweise weitgehend keimfrei ist.
- Immunsystem-Interaktion: Die veränderte Darmflora kann die Immunzellen in der Darmschleimhaut beeinflussen und zu einer erhöhten Entzündungsbereitschaft führen.
Die Wiederherstellung eines gesunden Darmmikrobioms ist daher ein wichtiger Ansatzpunkt in der Behandlung des RDS. Therapieansätze wie der Einsatz von Probiotika oder Synbiotika zielen darauf ab, die Diversität und Funktionalität des Mikrobioms zu verbessern und damit die Symptome des RDS zu lindern[2][4].
Psychosoziale Faktoren
Psychosoziale Stressoren, Ängstlichkeit, Depression und posttraumatische Stresssymptome werden häufig beim Reizdarmsyndrom angetroffen. Diese Faktoren können Funktionen wie die Magensäureproduktion, die Darmmotilität und die Immunfunktion negativ beeinflussen. Ein verändertes Essverhalten unter Stress kann ebenfalls zur Symptomatik beitragen.
Die Top-5 der psychosozialen Faktoren beim Reizdarmsyndrom sind:
- Stress: Sowohl akuter als auch chronischer Stress können die Symptome des RDS verschlimmern, indem sie die Darm-Hirn-Achse beeinflussen und die Darmaktivität verändern.
- Angst und Depression: Ein hoher Anteil der RDS-Patienten leidet unter Angststörungen und Depressionen, die die Wahrnehmung von Darmbeschwerden verstärken und die viszerale Hypersensitivität erhöhen können.
- Traumatische Erlebnisse: Traumata, einschließlich sexuellen Missbrauchs, sind bei vielen RDS-Patienten dokumentiert und können die Entwicklung und Verschlimmerung der Symptome beeinflussen.
- „Catastrophizing“: Die Tendenz, Schmerzen und Beschwerden als katastrophal zu interpretieren, kann einen Teufelskreis aus Angst und verstärkter Wahrnehmung der Symptome beim RDS auslösen.
- Emotionale Verarbeitung: Schwierigkeiten bei der Verarbeitung und dem Ausdruck von Emotionen („Gefühlsblindheit“), können die Symptomatik des RDS verstärken.
Symptome und Diagnostik des Reizdarmsyndroms
Die Symptome des Reizdarmsyndroms sind vielfältig und können von Person zu Person stark variieren. Die Diagnose des RDS ist daher ein komplexer Prozess, der sowohl die sorgfältige Beurteilung der Symptome als auch den Ausschluss anderer Erkrankungen erfordert.
Leitsymptome
Die Leitsymptome des RDS sind:
- Bauchschmerzen
- Verstopfung
- Durchfall
- Blähungen
Diese Symptome können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und in verschiedenen Kombinationen auftreten, gelegentlich auch kombiniert mit Völlegefühl, Übelkeit und Sodbrennen.
Diagnosestellung
Die Diagnose des RDS ist eine Ausschlussdiagnose, da die Symptome auch bei anderen Erkrankungen auftreten können. Ausschlussdiagnose bedeutet, dass andere Erkrankungen, die zu ähnlichen Beschwerden wie das RDS führen, durch Untersuchungen systematisch ausgeschlossen werden. Wenn dem so ist, bleibt als Diagnose das RDS übrig.
Die aktualisierte S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) definiert das RDS als Krankheitsbild, wenn folgende drei Punkte erfüllt sind:
- Chronische Beschwerden, die länger als 3 Monate anhalten oder wiederkehrend sind, wie Bauchschmerzen oder Blähungen, die mit Veränderungen des Stuhlgangs einhergehen.
- Die Beschwerden beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen so stark, dass sie medizinische Hilfe suchen.
- Es liegen keine Veränderungen vor, die für andere Krankheitsbilder charakteristisch und wahrscheinlich für die Symptome verantwortlich sind (Ausschlussdiagnose).
Zur Sicherung der Diagnose werden Anamnese, körperliche Untersuchung und Basislaboruntersuchungen durchgeführt. Wichtig ist der Ausschluss anderer Erkrankungen wie Tumorerkrankungen des Darms, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Nahrungsmittelunverträglichkeiten wie zum Beispiel Laktoseintoleranz und Zöliakie. Es können also auch Magen-Darmspiegelungen, Computertomographie und/oder MRT erforderlich sein.
Behandlungsmöglichkeiten des Reizdarmsyndroms
Obwohl das Reizdarmsyndrom eine chronische Erkrankung ist, gibt es verschiedene Behandlungsmöglichkeiten, die darauf abzielen, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern, zum Teil sogar erheblich. Da jeder Patient individuelle Beschwerden hat, muss die Behandlung auf die spezifischen Bedürfnisse abgestimmt werden.
Allgemeine Therapiegrundsätze beim Reizdarmsyndrom
Die Therapie des RDS basiert auf einem multimodalen Ansatz, der sowohl nicht-medikamentöse als auch medikamentöse Maßnahmen umfasst. Eine gute Kommunikation zwischen Arzt und Patient ist dabei außerordentlich wichtig, um ein realistisches Verständnis der Erkrankung zu vermitteln und die Therapieziele klar zu definieren, was beim Patienten klar ankommen und von ihm akzeptiert werden muss, damit die Behandlung erfolgreich ist.
Patientenaufklärung
Die Aufklärung über das RDS ist ein wichtiger erster Schritt in der Therapie. Die Patienten sollten darüber aufgeklärt werden, dass ihre Beschwerden real und nicht etwa eingebildet sind und dass das RDS keine Auswirkungen auf die Lebenserwartung hat. Eine klare Erklärung des Krankheitsmodells und der Behandlungsoptionen kann helfen, das Vertrauen in die Therapie zu stärken. Patient und Arzt müssen gemeinsam an einem Strang ziehen.
Nicht-medikamentöse Maßnahmen
Neben der medikamentösen Behandlung gibt es eine Reihe von nicht-medikamentösen Therapieansätzen, die bei Patienten mit Reizdarmsyndrom (RDS) eingesetzt werden können, nämlich körperliche Aktivität, Ernährungsumstellungen, Probiotika und Stressmanagement.
Bewegung
Eine regelmäßige körperliche Aktivität kann die Symptome des RDS lindern. Moderate sportliche Betätigungen wie Spazierengehen oder spezielles Reizdarm-Yoga haben sich in klinischen Studien als hilfreich erwiesen.

Ernährung
Eine gezielte Anpassung der Ernährung kann ebenfalls zur Linderung der Symptome beitragen. Häufige Nahrungsmittelunverträglichkeiten bei RDS sind zum Beispiel Laktose, Fruktose und Histamin. Eine temporäre Eliminationsdiät, bei der vermutete Auslöser gemieden werden, kann helfen, die Symptome zu verbessern. Ein Ernährungstagebuch kann dabei unterstützend wirken.
Psyche
Psychosoziale Unterstützung und Stressbewältigungsstrategien sind weitere wichtige Aspekte der nicht-medikamentösen Therapie. Psychotherapeutische Verfahren wie kognitive Verhaltenstherapie, bauchgerichtete Hypnose und psychodynamische Psychotherapie können bei entsprechender Indikation hilfreich sein.
Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Therapie sollte symptomorientiert erfolgen und auf den individuellen RDS-Typ abgestimmt werden. Zu den möglichen Medikamenten gehören Medikamente gegen Durchfall oder Verstopfung, krampflösende Mittel und Antidepressiva. Die Auswahl der Medikamente sollte sorgfältig erfolgen, um unerwünschte Nebenwirkungen zu vermeiden.
Prävention und gesunde Lebensweise beim Reizdarmsyndrom
Durch präventive Maßnahmen kann das Risiko, an RDS zu erkranken, verringert werden. Im Folgenden werden wir die wichtigsten präventiven Strategien erörtern, die dazu beitragen können, das Auftreten von RDS zu vermeiden oder seine Symptome zu mildern.
Präventive Maßnahmen
Obwohl das Reizdarmsyndrom eine chronische Erkrankung ist, für die es keine Heilung gibt, können präventive Maßnahmen dabei helfen, das Auftreten von Symptomen zu vermeiden oder zumindest abzumildern. Hier sind einige wichtige Ansätze zur Prävention des Reizdarmsyndroms:
Ernährungsumstellung
Eine ballaststoffreiche, faser- und nährstoffreiche Ernährung kann die Darmfunktion positiv beeinflussen. Bestimmte Lebensmittel wie Vollkornprodukte, Obst, Gemüse und probiotische Produkte wie Joghurt können das Darmmikrobiom stärken und die Symptome lindern. Gleichzeitig sollte der Konsum von Reizstoffen wie Koffein, Alkohol und fettreichen Speisen reduziert werden.

Stressmanagement
Da Stress ein Hauptauslöser für Reizdarm-Beschwerden sein kann, ist ein effektives Stressmanagement essentiell. Techniken wie Meditation, Yoga, progressive Muskelentspannung oder Achtsamkeitsübungen können helfen, Stress abzubauen und die Darm-Hirn-Achse zu regulieren.
Weitere Informationen zum Selbstmanagment bei Reizdarmsyndrom finden Sie hier
Reizdarmsyndrom: Arzt oder App?
Bewegung
Regelmäßige körperliche Aktivität kann die Darmfunktion verbessern, Stress abbauen und somit präventiv wirken. Empfohlen werden mindestens 30 Minuten moderate Bewegung pro Tag.
Probiotika und Präbiotika
Der Einsatz von probiotischen Bakterienkulturen und präbiotischen Ballaststoffen kann die Zusammensetzung der Darmflora positiv beeinflussen und so das Risiko für RDS-Beschwerden senken.
Probiotische Bakterienkulturen sind lebende Mikroorganismen, die, wenn sie in ausreichenden Mengen aufgenommen werden, einen gesundheitlichen Nutzen bieten. Diese Kulturen werden häufig in Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln verwendet, um die Darmgesundheit zu unterstützen und das Gleichgewicht der Darmflora zu fördern. Dazu gehören Joghurt, Kefir, Sauerkraut, Kimchi, Miso, Kombucha, gereifte und nicht pasteurisierte Sorten wie Gouda, Cheddar und Schweizer Käse und Buttermilch.
Präbiotische Ballaststoffe sind unverdauliche Nahrungsbestandteile, die das Wachstum und die Aktivität von probiotischen Bakterien im Darm fördern. Sie dienen als Nahrung für die „guten Bakterien“ im Darm und unterstützen so eine gesunde Darmflora. Dazu gehören Chicorée, Zwiebeln, Knoblauch, Lauch, Bananen, Artischocken, Spargel und Hülsenfrüchte.
Vermeidung von Auslösefaktoren
Manche Patienten können bestimmte Lebensmittel, Medikamente oder Stressfaktoren identifizieren, die ihre Symptome verschlimmern. Diese Auslöser sollten dann nach Möglichkeit gemieden werden.
Durch die Umsetzung dieser präventiven Maßnahmen können viele Menschen mit Reizdarmsyndrom ihre Beschwerden deutlich lindern oder sogar ganz vermeiden. Ein ganzheitlicher Ansatz, der Ernährung, Lebensstil und Stressmanagement berücksichtigt, ist dabei besonders vielversprechend.
Fazit
Quellen
S3-Leitlinie Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Reizdarmsyndroms, 2021
Meißner, T. Das Entscheidende beim Reizdarmsyndrom. CME 20, 24–25 (2023).